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©2021 collectifgamine


Irreführende Fiktionen


Dieser Beitrag entstand in Zusammenarbeit
zwischen Alina Ragoni und Caroline Tanner


Ein Anruf von den Herausgeberinnen und wir setzen an zum Dialog; über Sexismus. Der erste Gedanke: Können wir etwas über Sexismus lernen, wenn wir uns in etwas hineinversetzen, das wir nicht sind? Zum Beispiel in einen Stuhl, der den ganzen Tag im Café steht und den Menschen zuhört? Unser Dialog beginnt bei irreführenden Fiktionen und mündet schliesslich in mehr Erkenntnis über uns selbst und die Welt – und vor allem auch darüber, wer bestimmt, was sexistisch ist und was nicht.

In unserem ersten Dialog sind wir in eine hölzerne Sackgasse geraten. Der Dialog gipfelte darin, dass ein Schweizer Stuhl aus Eiche einem US-amerikanischen Stuhl aus Buche sagte:
„Ich hab eben erfahren, dass es gar keine Rolle spielt, aus was [welchem Holz] man gemacht ist, sondern zu was man gemacht wird. Ich meine, warum sollte Mahagoni wertvoller sein als Buche? Ich habe gehört, die Menschen stellen Mahagoni-Stühle in die Chefetagen und dann erst denken sie, dass es wertvoller ist als das andere Holz. Und dann fühlen sich die Mahagonistühle auch wie etwas Besseres und prahlen damit rum. Aber eigentlich sind wir doch alle aus Holz, oder?“ Wir mussten schnell feststellen, dass Sexismus etwas sehr Menschliches zu sein scheint, das sich irgendwie nicht auf Stühle übertragen lässt. In den Analogien fanden wir nichts mehr, als was wir bereits suchten. Der Blick war verstellt, Widerstand regte sich. Und wir fragten uns, weshalb.

Alina: Ich fand unseren Stuhl-Dialog irgendwie platt und habe mir die ganze Zeit gedacht: „Was weiss ein Stuhl schon über Sexismus?“. Das ging für mich nicht auf – wir finden Sexismus nicht bei den Tieren und schon gar nicht bei den Stühlen, es lässt sich nur aus einer menschlichen Innenperspektive wirklich verstehen. „Von aussen betrachtet“, aus der Sicht zweier Stühle, die auf Menschen schauen, lässt es sich nicht begreifen. Sexismus scheint eine Erfahrung zu sein, nichts wirklich Objektives, Äusseres, sondern ein Erlebnis.
Sexistisch behandelt zu werden heisst, aufgrund von Vorurteilen über mein Geschlecht nachteilig behandelt zu werden. Also, dass jemand Dinge über mich annimmt, ohne sich mit mir darüber auszutauschen, ob diese Dinge auf mich zutreffen. Zum Beispiel, dass ich mich gerne von einem Mann beschützen lassen möchte, weil ich eine Frau bin. Wenn das über mich angenommen wird und ich dann auch so behandelt werde, ungefragt – wenn also gewissermassen über mich entschieden wird – dann ist das eine Form von Diskriminierung. Wenn ich mich tatsächlich gerne beschützen lasse von einem Mann, dann wurde zwar ebenfalls über mich entschieden, aber so, dass es mich wahrscheinlich nicht gross stört. Ich habe ja auch die Möglichkeit zu sagen: „Nein, werde ich nicht. Da nimmst du etwas an über mich, das so nicht stimmt“. Und dann kann das Gegenüber auch sagen: „Okay, sorry, dann habe ich dich falsch eingeschätzt“. Und dann stellt sich für mich die Frage: Ist es auch Sexismus, wenn es niemanden stört?

Caroline: Hm. Nur weil etwas nicht subjektiv sichtbar wird, das heisst jemanden bewusst stört in seinem individuellen Alltagserleben, heisst das nicht, dass es nicht existiert. Wenn viele Frauen sich zum Beispiel nicht gestört fühlen, wenn ihnen entgegnet wird „Du wirst doch sicher gerne beschützt!“, sondern verstanden, scheint das zunächst nicht weiter problematisch. Die Konsequenz ist aber, dass solche Äusserungen nicht hinterfragt oder überdacht werden. Werden sie stetig wiederholt, bleibt der Gebrauch solcher Äusserungen in einer Kultur beständig – er kann sich sogar festigen und verstärken. In Sachen Diskriminierung ist gerade die Sprache eine entscheidende Kulturpraktik. Denn wenn es nun Menschen gibt, die sich aufgrund solcher sprachlichen Äusserungen diskriminiert fühlen, entsteht ein Ungleichgewicht. Für die Betroffenen wird es ungleich schwieriger, solche weit ins kulturelle Gedächtnis eingeprägten Diskriminierungen zu umschiffen oder zu verhindern. Damit wird ihnen eine grosse Last aufgezwungen: Sie werden nicht nur diskriminiert, sie können auch kaum etwas dagegen ausrichten, und zwar nicht nur kurzzeitig im Moment der Diskriminierung selbst. Wenn sich diskriminierende Äusserungen in einer Kultur festigen, ist auch die Wahrscheinlichkeit grösser, dass im Leben der diskriminierten Person weitere Diskriminierungen auftreten werden, gegenüber denen sie – zu einem gewissen Grad – machtlos ist.

Alina: Stimmt. Ich glaube, es ist zentral, auf die Systematik von Sexismus hinzuweisen. Mir gefällt der Ausdruck „Resonanzräume“ in diesem Zusammenhang: Eine umgedrehte Aussage würde niemals auf so viel gesellschaftliche Zustimmung stossen: „Du lässt dich sicher gern beschützen, du bist doch ein Mann!“. Wenn ich dann noch mit der Vorstellung aufgewachsen bin, dass ich mich als Frau doch beschützen lassen will, sonst stimmt etwas mit mir nicht, dann stimme ich dem Gegenüber vielleicht sogar zu oder schäme mich dafür, dass ich sein grosszügiges Angebot, mich zu beschützen, ablehne. Das ist, glaube ich, das, was du oben gemeint hast?

Caroline: Ja genau. Die Erfahrungen, die ein Individuum macht, sind zwar einzigartig und in jeder Situation ein bisschen anders. Sie finden aber gleichzeitig auf einer strukturellen Ebene statt.

Alina: Trotzdem würde ich sagen, es gibt ja auch den Fall, wo es mir gelingt, einen Schritt zurück zu machen und zu sagen: „Das, was du da über mich sagst, hat absolut nichts mit mir zu tun, sondern nur mit deinen Vorstellungen.“ Im wunderbaren Buch „Die Argonauten“ schreibt Maggie Nelson: „Der Moment von Queer Pride [ist] die Weigerung, sich zu schämen, wenn man Zeuge wird, wie der andere sich für einen schämt.“ Wenn ich das auf Sexismus übertrage, und diesen inneren Schritt zurück machen kann, dann kann ich doch die Definitionsmacht über mich behalten und auch meine Integrität. Dann stellt sich für mich schon die Frage: Werde ich dann trotzdem diskriminiert?

Caroline: Genau – wer hat die Definitionsmacht? Haben wir nicht alle gemeinsam Teil am Erschaffen und Verändern von Sprache? Die Äusserung über das eigene, innere Erleben scheint mir zentral. Dabei gilt es natürlich zu berücksichtigen, dass jedes Individuum eine eigene Sozialisierung mit sich bringt. Ich ertappe mich im Alltag immer wieder dabei, dass ich nicht offen kommuniziere, wenn ich mich diskriminiert fühle. Es gibt irgendwie Hemmschwellen. Statt zu sagen, dass und weshalb ich mich in einer bestimmten Situation diskriminiert fühle, möchte ich lieber ins Setting passen, nicht stören – auch um nicht noch weiter diskriminiert werden. Deswegen bleiben vielleicht insgesamt noch viele Diskriminierungen unentdeckt, auch im Sexismus.

Alina: Ja, das geht mir auch so. Das ist doch genau internalisierter Sexismus. Man wächst so sehr auf mit sexistischen Handlungen, dass man irgendwann ziemlich gut darin wird, sie zu antizipieren. Du hast schon recht, wir müssen uns auch fragen: Wie frei bin ich überhaupt, mich selbst als etwas wahrzunehmen, wenn das Aussen mir etwas anderes spiegelt?

Caroline: Ja, die Geschlechterrollen begleiten uns als implizite Menschenbilder. Wenn wir Bilder sehen, mit anderen kommunizieren, Bücher und Texte lesen, Videos und Bilder schauen, dann greift das alles in unsere Vorstellungen ein. Um deine Frage genauer zu untersuchen, könnten wir vielleicht da ansetzen, dass wir uns klar werden darüber, was wir voraussetzen. Denn was wir tun und wer wir sind, hängt unter anderem davon ab, wofür wir uns halten. Verändern wir die Vorstellungen über uns selbst, hat das auch Einfluss auf unsere Lebensführung, unsere Beziehungen und Gewohnheiten. Wie gehen wir mit dem eigenen Selbst- und Menschenbild um? Leider muss ich feststellen, dass mir immer wieder Menschen begegnen, die von sich behaupten, kein Menschenbild zu haben. Da wird natürlich ein Austausch schwieriger. Wenn vielleicht oft nicht explizit, so gehen wir doch alle implizit von gewissen Vorstellungen aus, – über uns selbst, die Welt und nicht zuletzt über unser Gegenüber. Und genau das zeigt ja nicht zuletzt unsere Stuhldiskussion: Als Menschen können wir uns dem nicht entziehen, auch wenn wir es uns oft wünschen. Und dann bleibt noch offen, wieso wir uns überhaupt der Sexismus-Debatte als Betroffene entziehen wollten. Als Stühle verfallen wir der verführerischen, aber irreführenden Fiktion, dem Menschsein entrinnen zu können; „etwas da draussen“ zu spielen. Stuhl zu sein, bedeutet nicht nur, sich von sich selbst zu distanzieren, sondern auch vom Menschsein. Das heisst, mit meinen Vorstellungen mitten im Geschehen drin zu sein, ob sie nun mein „Geschlecht“, „Menschenbild“ oder meinen „Charakter“ betreffen. Und das kann auch unangenehm sein, denn das Menschsein macht verwundbar. Dass wir dem entkommen wollten bringt mich zu Stanley Cavell, der meinte, dass nichts menschlicher ist als der Wunsch, kein Mensch zu sein. Der Stuhl spielte mir gewissermassen eine Flucht vor mir selbst vor, eine Entlastung von der eigenen Freiheit. Das erinnert mich daran, dass wir –also Alina und Caroline auch – unweigerlich Teil sind der Wirklichkeit und damit dieser Debatte. Und das Wirkliche ist ja auch gerade deshalb das Wirkliche, weil wir nicht zu ihm in Distanz treten können.

Alina: Genau das provoziert mich so daran, diese Gleichzeitigkeit von dabei sein, mittendrin sein, eingebunden sein auf der einen Seite und sich abgrenzen auf der anderen Seite; nicht sich rausnehmen aus der Szene, aber auch nicht mit ihr zu verschmelzen. Ich bin nicht sicher, ob ich dir zustimme darin, dass wir nicht auf Distanz gehen können zur Wirklichkeit. Wir müssten, denke ich, zuerst klären, was wir jeweils unter „Distanz“ verstehen. Auf jeden Fall sind wir uns einig, dass wir alle Vorstellungen mitbringen und dass das auch ganz viel mit Sprache zu tun hat. Das Spannende ist ja auch, dass die Bedeutungen von Wörtern ein gewisses Eigenleben bekommen, sie werden irgendwie widerständig und zu mehr als einer momentanen Übereinkunft, über die wir beliebig verfügen können. Wir schaffen diese Deutungsstrukturen, die es uns nicht erlauben, „Tisch“ zu sagen und einen Stuhl damit zu meinen. Gleichzeitig ist aber Kern von gesellschaftlichen Anerkennungsdiskussionen ja genau die Tatsache, dass sich diese Deutungsgewohnheiten eben ändern lassen. Meistens nur mit Macht gegen den Widerstand von dem, was bereits etabliert ist. Trotzdem: Sie sind schlussendlich kontingent und zugleich ziemlich beständig.

Caroline: Stimmt, diese Bedeutungsmuster können sich zwar über längere Zeitabschnitte respektive durch tiefgreifenden kulturellen Wandel verändern. Was diskriminierend ist, verschiebt sich zusammen mit den Gewohnheiten und mit den gesellschaftlichen Kontexten. Ich würde aber sagen, dass gesellschaftliche Kontexte mit ihrer Sprache und ihren Gewohnheiten eine andere Zeitlichkeit haben als die subjektiven Einzelerfahrungen, – also damit meine ich jetzt wirklich persönliche Ereignisse. Und kollektive oder kulturelle Bedeutungsmuster sind im Vergleich zu unserer individuellen Zeitspanne als Individuen auf dieser Welt eher träge. Das zeigt nicht zuletzt der Umstand, dass wir schon seit Jahrzehnten feministische Initiativen verfolgen, aber die Gleichstellung trotzdem noch lange nicht erreicht ist. Ich höre leider so oft „das ist halt so“ oder noch auswegloser: „das ist schon immer so gewesen“. Da fühle ich mich aufgefordert, zu entgegnen, dass schlussendlich nichts sicher ist, ausser Veränderung.

Alina: Ja genau, die Macht der Gewohnheit. Wir stützen uns auf diese Strukturen und vergessen dabei, dass sie veränderbar sind. Ich finde interessant, dass du das mit der Zeitlichkeit ansprichst. Wenn ich dich richtig verstehe, dann sagst du damit auch, dass wir in kleinen Kreisen Übereinkünfte treffen können, die nicht zwingend an ein Kollektiv gebunden sind. Wir können uns zum Beispiel darauf einigen, dass das Gegenüber mir bei jeder Gelegenheit den Schirm hinstreckt und die Tür öffnet usw. Daran ist nichts verkehrt. Die gleiche Geste von einer unbekannten Person lesen wir viel eher mithilfe öffentlicher Deutungsmuster.

Caroline: Hm. Ich denke, dass sich im privaten Bereich unsere Gewohnheiten schneller ändern lassen als im öffentlichen.

Alina: In jedem Fall scheint politisch wichtig zu sein, den Blick etwas weg von der Empfindung der diskriminierten Person zu nehmen und hin zu Gewohnheiten, die unser Sprechen und unser Hören prägen. Sodass ein Bewusstsein entsteht dafür, was wir alles mit-sagen, wenn wir etwas sagen. Im besten Fall entsteht dann ein Dialog zwischen zwei Menschen, die in Sprache eingebunden sind und sich gegenseitig verstehen wollen. Das ist gar nicht so leicht und verlangt irgendwie auch, dass wir Fragen der Schuld und Rechtfertigung erstmal beiseitelassen.

Caroline: Da bin ich mit dir einig! Auch wenn Sexismus strukturell auf einer gesellschaftlichen Ebene verankert ist, haben wir dennoch auf der individuellen Ebene Handlungsmöglichkeiten. Ich denke, da kann bereits jede und jeder mit dem eigenen Denken weiterkommen: Im Sinne Hannah Arendts führe ich beim Denken ein inneres Gespräch mit mir selbst, ich suche dabei Übereinstimmung. Und dieser innere Dialog ist Voraussetzung dafür, auch innerlich zu wachsen und dann mit einer veränderten Haltung auf andere Menschen zuzugehen und etwas auszurichten gegen Sexismus und alle anderen Formen von Diskriminierung. Wenn Sexismus etwas Menschliches ist und wir dem Menschlichen nicht entrinnen können, bedeutet das schliesslich auch: Wir haben das in der Hand, – und wie gesagt, nichts ist so sicher wie Veränderung.


30. November 2021
Ausgabe 1, S 22