Arschloch und Schlampe – Die Wahrheit und Macht des geschriebenen Wortes
Warum bekommt sexueller Missbrauch erst durch schriftliches Anprangern Gehör?
So grosse Teile der Erdgeschichte sind in der Knechtschaft der Fantasie erster schöner Worte und Waffen, erster schöner Worte als Waffen (und umgekehrt) erzählt worden Werkzeug, Waffe, Wort. Donna J. Haraway, Welten Säen in: «Unruhig bleiben» (2018), S.162, Z.23–25.
Ich bin Beobachterin
Ich beobachte im ersten und zweiten Grad und bekomme Szenen zu sehen und Passagen zu hören, die nicht für meine Augen und meine Ohren bestimmt sind. Was mich besonders hellhörig und wach werden lässt, sind bestimmte Situationen und Szenen im öffentlichen Raum. Ich schreibe diese oft unbeobachtet mit: Mit dem Laptop, auf meinem Handy, meinem Notizbuch oder in Gedanken. Es vergehen Stunden, manchmal Tage oder Wochen, bevor ich diese Notizen wieder hervorkrame und mich ihnen widme. Ich versetze mich zurück in diese Situationen und verstehe erst durch das Wiederaufschreiben, was dort geschehen ist. Schöne und befremdliche, auch erschreckende Bege-gnungen, Begebenheiten und Gespräche.
Zürich, Frühling 2020: Eine Gruppe Jugendlicher fährt an einemSonntagnachmittag Bus. Einer der vier Jungs in Daunenjacken lehnt sich an die Bustür, die anderen stehen breitbeinig um ihn herum. Er spricht lautstark mit seinen Kumpels darüber, wie er seine Freundin dazu bringt, ihn oral zu befriedigen. Er formt mit seinen Händen einen imaginären Kopf und drückt ihn ruckartig gegen seine Lenden: DIE CHECKT HALT NICHT, WAS ICH VON IHR WILL.
«Arschloch», denke ich, während ich seine Worte in den Laptop tippe.
Ich fluche
ARSCHLOCH schrieb ich auch als Kind; mit rotem Farbstift auf Papier. Und auch LARA IST EINE FETTE KUH mit Kreide in Grossbuchstaben auf die Quartierstrasse. Eine Aussage, die bis zum nächsten Regen für alle sichtbar war. Oder ich nahm den dicken Regenbogenfarbstift. Hielt ihn verkrampft in der Hand und drückte mit aller Kraft Buchstaben ins Papier: ICH HASSE DICH. Die vermeintliche Unschuld bröckelt, wenn ein Kind lautstark «böse» Wörter von sich gibt. Denn wenn Kinder auf die Welt kommen, sind sie alles andere als bereit, für ihre Emotionen; geschweige denn, diese mit Wörtern auszudrücken. Die meisten von ihnen werden in eine Umgebung hineingeboren, in denen Busfahrpläne, Ortsnamen, Zeitungen, Bücher und Geld mit Buchstaben gespickt sind, und beim Entziffern eine kollektive Gültigkeit bekommen. Der Schlüssel dazu ist eine gemeinsame Sprache und das bilden eines Sprachkollektivs. Wer versteht, gehört dazu und wer dazugehört, kann sprechen und wird gehört. Aber auch über die Sprache hinaus werden Menschen im privaten und öffentlichen Raum durch die vorherrschenden Normen und Erwartungen stets verglichen, beurteilt und eingeordnet. Hier passiert eine willkürliche Verteilung von Macht und Sprachrohren, dem Recht zu Sprechen und auf eine eigene Meinung, die gehört werden will. Aber solche Zuschreibungen können nur existieren, weil wir alle glauben, akzeptieren und vor allem darauf vertrauen, dass sie es tun. So wie auch der Wert vom Schweizerfranken oder der Anspruch auf die Macht, die aus der Ungleichstellung zwischen Menschen resultiert. Frau und Mann, versklavte und freie Personen, Hautfarbe, Vermögen. All das hat nicht viel mit Biologie zu tun, sondern vielmehr mit der Vorstellungskraft, Kulturen und Codes, die von uns Menschen geprägt und verankert wurden.
Wie kann etwas Imaginiertes nur so viel reale Gewalt ausüben?
Bevor der Hashtag «MeToo» im Oktober 2017 die Sozialen Medien durchflutete, war sexuelle Gewalt etwas, das in unserer Gesellschaft ganz klar gesehen, aber nicht wirklich thematisiert wurde. Trotz dem verbreiteten Wissen davon wurden die vorherrschenden Machtverhältnisse letzten Endes nicht in Frage gestellt. Eltern haben Macht über ihre Kinder, Ehemänner über ihre Ehefrauen, Chef*innen über ihre Angestellten. Die Abhängigkeiten lassen sich mit Geld und Liebe legitimieren. Beide Dinge schaffen etwas Begehrenswertes und Emotionales, das neue Zugänge und Türen öffnet, denn wer Geld hat, es verwaltet oder wer geliebt wird, hat Macht über die, die davon abhängig sind.
Was verändert sich nun, wenn das Wissen von sexueller Gewalt von den Hashtagtipper*innen in den viralen Raum geschrien wird?
Ich bin Schreiberin geworden
Weil Gefühle und Ausdrücke für mich eine grössere Relevanz bekamen, wenn sie schwarz – oder in meinem Fall rot-gelb-orange-grün – auf weiss geschrieben standen. Mir wurde beigebracht, wie wichtig es ist, Wörter in Büchern und Zeitungen zu entziffern. Denn wichtige Dinge stehen geschrieben, werden von einer breiten Masse an Menschen gelesen, ernst genommen und verstanden. Sie dienen ihnen als Orientierung im Leben und in der sie umgebenden Gesellschaft. Wer diese gemeinsame Sprache nicht beherrscht, läuft Gefahr, ausgeschlossen zu werden und viele damit einhergehenden Privilegien nicht wahrnehmen zu können. Diese Bedeutungsmacht erlebte ich zum ersten Mal in der Grundschule: Wir verbrachten unsere Zeit mit dem Lernen von Lesen und Schreiben und plötzlich stand, mit dickem Filzstift an die Turnhallenwand geschrieben: G + M. Gianna liebt Marco. Jemand aus meiner Klasse hatte sich einen Scherz erlaubt und auch wenn ich wusste, dass es nicht stimmt, die anderen – sogar meine beste Freundin! – glaubten die gekritzelte Liebesbotschaft. Das Blut schoss mir auch Tage später noch in den Kopf und ich ahnte, was für Kräfte geschriebene Wörter
entwickeln können.
Ist es möglich, einen kollektiven Glauben umzupolen und Machtverhältnisse auszubalancieren?
Vielleicht durch einen Fall, einen Betrug oder eine Erkenntnis, die weh tut und die in unserer Gesellschaft «richtige» Art von Menschen involviert. Wenn schwarze Frauen ohne Papiere von weissen reichen Männern missbraucht werden, schlägt das selten Wellen. Erst ein Tweet, von einer Hollywoodschauspielerin geschrieben, löste etwas aus. Alyssa Milano schrieb am 15. Oktober 2017: IF YOU’VE BEEN SEXUALLY HARASSED OR ASSAULTED WRITE ‹ME TOO› AS A REPLY TO THIS TWEET. Innert 24 Stunden folgten 12 Millionen Menschen ihrer Einladung. Dass die Parole bereits 2006 von der afroamerikanischen Bürger*innenrechts- und Menschenrechtsaktivistin Tarana Burke für eine MySpace-Kampagne geprägt worden war, um das Bewusstsein für sexuelle Gewalt – insbesondere gegenüber afroamerikanischen Frauen – zu wecken und zu stärken, unterstützt meine These.
Niemand war wirklich überrascht und es gab keine Schlagzeilen wie:
MILLIONEN VON MENSCHEN SIND VON SEXUELLER GEWALT BETROFFEN. 2006 wie auch 2016 geht es darum, Betroffenen ein Bewusstsein dafür zu geben, dass sie nicht alleine sind, und nicht alleine gelassen werden. Es wird eine Schulter geboten, an der es leichter fällt, sich einem Menschen anzuvertrauen, wenn diese*r sagt: Ich auch. Aber wichtiger ist, was der Satz auslöst: Ein Gefühl der Zusammengehörigkeit, das Mut macht. Mut, sich laut zu äussern und die Forderungen vom digital geschriebenen Post oder Hashtag weg in die Gesellschaft zu tragen. Und plötzlich sprechen sie. Sie sprechen alle. SIE SCHREIEN. Plötzlich nehmen die «Überlebenden» die ihnen durch Stillschweigevereinbarungen angedrohten Konsequenzen auf sich.
Ich rede
Manchmal glaube ich nicht an meine Unversehrtheit. Ich bin mir ihrer nicht immer sicher. Heute verstehe ich die Facetten von (sexuellem) Missbrauch besser, als noch als Kind oder Jugendliche. Als ich erfuhr, dass jemand aus meiner Familie als junger Mann missbraucht wurde,
bekam meine bis dahin sehr optimistische und behütete Sicht auf die Welt einen Knacks. Vor allem meine moralischen Erwartungen an
Menschen. Bis dahin existierte diese Art von Gewalt nur ausserhalb
meiner eigens geformten Blase. Ohne sie fühle ich mich nackt.
Wenn es sogar den Männern meiner Familie zustossen kann, warum sollte gerade ich verschont bleiben?
Ich verstehe es nicht
Ich verstehe nicht, wie so etwas passieren kann. Meine Reaktion ist der perfekte angeborene oder antrainierte Selbstschutz für Menschen, die unversehrt bleiben. Verdrängen von Erinnerungen gehört zum Menschsein dazu. Ohne das Vergessen von traumatischen Erlebnissen würden wohl die meisten Frauen keine Kinder mehr kriegen. Ein schlauer Trick der Natur, uns zu überlisten. Aber es passiert jeden Tag. Auch in der geordneten und scheinbar gerecht funktionierenden Schweiz2. Laut Bundesamt für Statistik wurde 2018 in der Schweiz jeden zweiten Tag eine Frau vergewaltigt. Sexuell missbrauchte Männer wurden keine gemeldet. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass das stimmt. Nein. Ich weiss es sogar. Nicht nur in der Schweiz sondern international sind Vergewaltigungen und sexuelle Übergriffe an Männern ein Tabuthema: In Amerika wurde erst seit 1970 über die Vergewaltigung männlicher Personen (mit dem Fokus auf Kinder3) geforscht und 1980 folgten Studien über sexuelle Übergriffe in Gefängnissen. Seit einigen Jahren befasst sich die Forschung vor allem mit der Vergewaltigung und sexueller Nötigung weiblicher Opfer und schliesst Männer aus. Vergewaltigte Männer entsprechen einfach nicht unserer gesellschaftlichen Norm vom starken Mann.
Zürich, Sommer 2019: Eine Gruppe Männer Ende zwanzig besprechen, in welche Bar sie gehen und wie viele Pitcher sie an diesem Abend trinken wollen. Der Blonde plant, nicht allzu lange zu bleiben. Er will noch seine Affäre bumsen. Der Braunhaarige boxt ihm in die Schulter: DU SPITZER PERVERSLING! Das Gespräch dreht sich nun um die letzten weiblichen Errungenschaften. Der Grösste der Truppe will seinen Kumpels etwas sagen. Sie hören ihm nicht zu. Er versucht es nochmals, etwas lauter: HÖRT MAL KURZ ZU! Die anderen schauen ihn überrascht an. Er drückt mit seinen Pranken Dellen in die Bierdose. Letzte Woche sei beim Feiern eine Frau auf ihn zugekommen und habe ihm «heisses Schnittchen» ins Ohr geflüstert. Er wollte weggehen und da hat sie ihn am Schwanz gepackt. Die anderen schweigen einen Moment. WAR SIE GEIL?
2Auch andere Formen der sexuellen Belästigung sind verbreitet. Laut einer Studie von Amnesty International von 2019 machen sich 40 Prozent der befragten Frauen in ihrem Alltag Sorgen, sexuell belästigt zu werden. Fast 60Prozent haben eine Belästigung in Form von unerwünschten Berührungen, Umarmungen oder Küssen erlebt und 12 Prozent wurden zu Geschlechtsverkehr gegen ihren Willen gezwungen.
3Studien und Statistiken zeigen, dass die meisten Männer in ihrer Kindheit missbraucht werden.
Ich erwarte es
Wenn ich im Dunkeln alleine nach Hause gehe, fühle ich mich oft nicht sicher. Ich schaue auf mich herab und beobachte, wie sich mein Schritt beschleunigt. Blicke huschen in die Lücke zwischen geparkten Autos und meine Gedanken eilen mir um die nächste Ecke voraus. Ich kann nicht im Voraus sagen, wann und ob die Angst kommt. Ich stelle mir dann vor, was passieren könnte, wenn eines der vereinzelt vorbeifahrenden Autos oder einer der mich überholenden Menschen plötzlich neben mir stoppen würden.
Bern, Sommer 2018. Die Mittagssonne glüht auf dem Asphalt, während ich mit dem Velo von Bümpliz in die Stadt fahre. Auf der Strecke durch das Industriegebiet will ein Auto rechts vor mir von einer Nebenstrasse auf die Hauptstrasse abbiegen. Der Autofahrer bremst ruckartig und ich erschrecke, fahre etwas langsamer an ihm vorbei und unsere Blicke treffen sich. Er leckt sich die Lippen und verzieht diese zu einem Kussmund. Als er neben mir vorbeifährt, zeige ich ihm automatisch den Mittelfinger. Er drosselt sein Tempo, bis er neben mir herfährt, und lässt die Scheibe runter. DU VERFICKTE SCHLAMPE, FÜR WEN HÄLTST DU DICH EIGENTLICH? ICH FICKE DICH TOT... Ich bremse abrupt, das Auto zieht an mir vorbei, ich wende und trete in die Pedale. Das Herz schlägt mir bis zum Hals. Meine Wut wurde zur Angst und wird erst wieder zur Wut, als ich alleine vor dem Spiegel kontrolliere, ob meine Hose auf dem Velo meinen Hintern verdeckt.
War es meine Schuld?
Könnte ich mich überhaupt wehren und wäre meine Wut bedrohlich genug?
Ich stellte mir nicht vor, was hätte passieren können. Ich stellte mir vor, wie ich mich nächstes Mal verteidigen würde. Und darüber denke ich immer wieder nach, wenn mich die Angst überfällt. Ich überlege mir, was ich tun könnte und wie ich meine Angreifer*innen überwältige. Ich bin zu feige, mir die Übergriffe selbst vorzustellen, weil ich mir nicht bildhaft vor Augen führen will, was passieren könnte. Dabei komme ich mir lächerlich vor. Als ob ich die Wahrheit nicht aushalten würde und auch hier nicht konkret über meine Ängste schreiben will oder mit jemandem in den Dialog treten möchte. Wenn ich nachts beim nach Hause gehen Angst habe, greife ich oft angespannt zum Smartphone. Ich rufe aber selten wirklich jemanden an. Sie würden meine Angst vielleicht nicht verstehen, denn ES IST JA NICHTS PASSIERT.
Die Geschichte mit dem Fahrrad war nicht der Auslöser, warum ich mit einem Übergriff rechne. Schon als Jugendliche band ich mir nachts auf dem Nachhauseweg stets meine Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen. Bloss keine Anreize geben, kein begehrenswertes Ziel darstellen, auch wenn ich mich selber nicht für besonders begehrenswert hielt. Ich verstand nicht genau warum, sondern machte einfach. Ich machte das, weil mir schon als Kind gesagt wurde, dass ich michschützen und fremden Menschen nicht trauen soll. Aber wovor und warum genau, hat mir niemand gesagt.
Wen schützt das Schweigen über Unaussprechliches?
Ich konnte dank diesem Schweigen meiner Eltern und Lehrer*innen unbeschwert sein. Ich ging auf Reisen, trampte, schlief bei Fremden auf der Couch oder auch mal im gleichen Bett. Nichts passierte. Als ich 2016 mit einer Freundin einen Monat mit dem Zelt durch Irland trampte, wurde ich nach drei Wochen von einem alten Herren auf seinem Cricketfeld aus meiner Blauäugigkeit gerissen.
Irland, Sommer 2016. Wir fahren seit mehreren Stunden mit einem Australier in seinem gemieteten BMW mit. Er heisst Graham und hat uns an der Westküste in der Nähe von Dingle aufgelesen. Wir wollen nach Norden und er Gesellschaft. Wir hören The Doors. Im Landesinneren erregt ein Schild seine Aufmerksamkeit: «Cricketfield Athlone». Er biegt ab und wir landen bei einem alten Herrenhaus aus Stein. Einige Minuten später stapfen wir mit dem Besitzer auf dem leuchtend grünen, glatt gemähten Feld herum. Graham fachsimpelt mit ihm, während Luisa und ich mit seinem Sohn ein paar Bälle schlagen. Das Gespräch muss auf uns gekommen sein. Der Besitzer stampft auf uns zu und schreit: DO YOU WANT ME TO DRAG YOU RIGHT AWAY TO THE MADHOUSE? Er würde seiner Tochter eher den Hals umdrehen, als sie mit fremden Männern mitfahren und wild campieren zu lassen. ARE YOU CRAZY? Nein, um seinen Sohn muss er keine Angst haben, der ist ein starker Junge. Er bittet uns, sein Grundstück zu verlassen. Zurück im Auto schweigen wir alle. Am Abend lädt uns Graham in ein Hotel ein und am nächsten Tag bringt er uns bis nach Belfast. Wir fahren mit dem Zug nach Dublin zurück und verbringen keine weitere Nacht mehr im Freien.
Sind wir selber schuld, wenn wir nicht damit rechnen, angegriffen, belästigt oder missbraucht zu werden; nicht bereit sind, uns zu verteidigen?
Dürfen wir nicht mehr unwissend sein?
Warum soll ich mit einem Missbrauch rechnen?
Ich höre immer wieder davon, dass Männer vor alleine reisenden Frauen im Zug, Tram oder U-Bahn masturbieren, sie beim Sitzplatzwechsel verfolgen und ihnen entgegenspritzen. Es sagt niemand was. ALLE SCHAUEN WEG. Auch die Betroffenen. Aus Angst, davor was passieren könnte, wenn sie sich verbal wehren oder weggehen würden. Aus der Ferne belästigt zu werden tut ja nicht weh. Das ist übrigens kein urbanes Phänomen: Der Freundin einer Freundin geschah abends im Zug der Rhätischen Bahn in Graubünden das gleiche. Auch sie ging nicht weg. Auch sie sagte nichts.
Ab wann ist es ein Missbrauch?
Merken die nicht, dass das demütigend ist?
Alle Beteiligten im Zug erkennen die Demütigung vielleicht gar nicht. Männer wie Frauen, Opfer wie Täter*in könnten die Befriedigung auf Kosten der Selbstsicherheit der Betroffenen als Norm betrachten. Ist halt so. Unwohlsein und Angst zu erzeugen macht Lust und erzeugt ein Gefühl von Macht. Ausübend ist aber in den seltensten Fällen der oder die Bilderbuchsadist*in.
Ich schweige
Wir schreiben ja meist schweigend. Vielleicht schreiben wir auch unüberlegter, als wir sprechen. Schreiben auf Sozialen Medien ist etwas dazwischen und ermöglicht allen teilnehmenden Menschen, zu publizieren. Soziale Medien bieten Plattformen und das Schreiben auf diesen kann Sprechen ersetzen. Dabei muss aufgepasst werden, dass nicht alles Geschriebene gleich gewichtet wird und zu einem gleichgültigen Einheitsbrei verkommt. Die Verständnisebene der Mimik, Gestik und das sich in die Augen schauen fehlt. Diese soziale Distanz kann zu einer vermeintlichen Sicherheit führen, die Menschen ermutigt, sich auszu-drücken und die Hemmungen verschwinden lässt.
Unerwartet entwickelte sich auf Twitter auch einen Hashtag für Täter*innen: #IHave. ICH HABE (ES GETAN). Auf beide Aufrufemeldeten sich Männer wie auch Frauen. Sexuelle Gewalt ist nicht geschlechterabhängig. Sei es in der Täter*innen- oder Opferrolle. Geschlechterspezifische Stereotypen führen dazu, dass Frauen und nicht Männer in der Opferrolle erwartet werden und alle überrascht sind, wenn ein Mann von seiner Vergewaltigung erzählt. ALS SEIEN SIE ZU STARK, UM MISSBRAUCHT ZU WERDEN.
Getrauen wir uns nicht, in einen persönlichen Dialog zu treten?
Ein stummes Bekennen mit der Hoffnung, nicht oder eben gerade darauf angesprochen zu werden. Durch ein geschriebenes Wort senden wir eine Botschaft, in der wir augenblicklich zu Empfänger*innen werden. Von Reaktionen wie Meinungen, Antworten, Support, Konfrontation oder Angriff, die aber in den meisten Fällen im digitalen Raum bleiben. Ist ein Dialog aus verschiedensten Gründen nicht möglich, so muss er geschrieben werden. Und will er viele, auch fremde Menschen erreichen, dann muss er gepostet werden. Zusätzlich kommt dazu, dass im Netz Menschen gleich laut sind – egal welches Geschlecht, Hautfarbe oder gesellschaftliche Position sie haben und wie viel Geld auf ihren Konti liegt. Denn Geld scheint zum Werkzeugkasten für sexuelle Übergriffe zu gehören. Wer Geld hat, hat Macht und wer Macht hat, ist in unserer Welt oft ein Mann4. Männer kommen leichter an Positionen, in denen sie (sexualisierte) Macht ausüben können, als Frauen. Und auch im traditionellen Bild einer Familie kümmert er sich darum, dass Geld nach Hause kommt, während sie sich um Haushalt und Kinder kümmert. Und auch wenn letzteres fehlt, kann eine warme Mahlzeit, ein sauberes zu Hause und nette Gesellschaft mit Take-Away, Reinigungskraft, Escort oder Sexarbeit gekauft werden5 . Nicht weniger kompliziert wird es, wenn genügend Geld im Kasten fehlt: Für den entstehenden (Leidens-)Druck6 wird oft eine schuldige Person gesucht, die vermehrt in Menschen in Abhängigkeitsstrukturen gefunden wird. Durch das sich Ermächtigen können Täter*innen Druck auf Kosten anderer ablassen.
4Mit Stillschweigevereinbarungen werden Opfer zum Schweigen gebracht. Unter anderem auch im medial viel diskutierten Fall von Harvey Weinstein.
5Auch im Fall von #MeToo konnte Macht mit Geld gebündelt werden: 2018 wurde der Rechtsschutzfond «Time’s Up» (von Hollywood-Prominenzen wie den Schauspielerinnen Blake Lively und Jennifer Aniston, Regisseurinnen und Filmproduzentinnen wie Shonda Rhimes und Ashley Judd und berühmten Anwältinnen) eingerichtet, um Überlebenden von sexueller Belästigung – insbesondere einkommensschwache Frauen – zu helfen und Gerechtigkeit zu erlangen. Innerhalb einesJahres wurden 22 Millionen Dollar gesammelt und es haben sich über 800 Anwält*innen ehrenamtlich zur Verfügung gestellt.
6In unserer kapitalistisch geprägten Gesellschaft.
ICH SCHREIE LAUT
Am 14. Juni 2019 gingen in der Schweiz hunderttausende Menschen auf die Strasse, um am Frauenstreik direkte Forderungen an unsere Gesellschaft zu stellen. ES MUSS SICH WAS VERÄNDERN. #MeToo hat mitgeholfen zu verstehen, dass es nicht normal ist, dass Frauen zu Hause bei den Kindern und dem Kuchen bleiben. Dass es nicht normal ist, dass sie dafür nicht entlohnt und in ein Abhängigkeitsverhältnis gezwungen werden. UND DASS ES NICHT NORMAL IST, DASS JEDE FÜNFTE FRAU ÜBER 16 SEXUELL BELÄSTIGT WIRD. Die Kritik an der aktuellen Situation und auch am Patriarchat wurde laut geäussert und machte vor keiner Alters-, Landes- oder Sprachgrenze halt. DieForderungen waren und sind überall gleich. Und zu diesen Forderungen gehört auch eine Revision des Schweizer Sexualstrafrechts. Das Strafgesetzbuch stammt noch aus den 40er Jahren7 und auch aktuell gilt: Du wurdest nur gegen deinen Willen vergewaltigt, wenn du mithilfe von Nötigung – wie zum Beispiel Gewalt oder Drohung – vaginal penetriert wurdest.
Warum können Männer in der Schweiz keine Vergewaltigungsopfer sein?
Täter*innen können nur bestraft werden, wenn sich ihr Opfer tatkräftig zur Wehr setzt und damit weitere Verletzungen riskiert. Ein NEIN reicht nicht. Deine günstigste Vergewaltigung nach Schweizer Strafrecht sieht folgendermassen aus: Du bist eine Frau, läufst abends durch den dunklen Park und wirst von einem gewalttätigen Mann überfallen. Du wehrst dich, schlägst um dich und schreist. Du wirst gegen deinen Willen penetriert und läufst nach der Tat so schnell wie möglich zur Polizei. AM BESTEN MIT DER DNA DES TÄTERS UNTER DEINEN FINGERNÄGELN. Das ist ein klassischer Vergewaltigungsmythos, der auch 2020 noch in den Köpfen der Schweizer*innen verankert ist.
Aber die meisten Übergriffe geschehen ohne Nötigung. Ohne rohe Gewalt, ohne sich Wehren und oft ohne fremde Person. Oft wird nur «Nein» gesagt. Die Schockstarre ist die natürlichste Reaktion eines menschlichen Körpers auf sexuelle Gewalt.
Über 90 Prozent der Übergriffe werden nicht angezeigt und das hat mehrere Gründe: Das Sprechen darüber ist schwierig und das Verdrängen von traumatischen Erlebnissen normal. Ein anderer Grund ist, dass BETROFFENE KEINE OPFER SEIN WOLLEN. Vor allem kein Opfer der Justiz. Den Meisten wird schon im Vorfeld nahe gelegt, dass ihr Fall vor Gericht chancenlos ist, weil sie sich nicht tatkräftig genug gewehrt haben. FÜR IHRE NATÜRLICHE REAKTION SIND SIE ALSO SELBST SCHULD.
Bei der Revision wird eine Neudefinition des Vergewaltigungsbegriffs8 geprüft und darüber nachgedacht, wie mit sexuellen Handlungen gegen den Willen einer Person umgegangen wird, wenn weder Gewalt oder Drohung angewendet wurden.
Kann ein neues Strafrecht unsere Welt verbessern?
7In der es in erster Linie darum ging, Opfer vor den Konsequenzen einer ungewollten Schwangerschaft zu schützen.
8Diese inkludiert alle nicht einvernehmlichen vaginalen,oralen und analen Penetrationen sexueller Natur unabhängig davon, ob es sich beim Opfer um eine Frau oder einen Mann handelt.
Ich sage ja
Ein Vorschlag verlangt von allen Beteiligten eine explizite Zustimmung für sexuelle Handlungen. Nur «Ja» heisst auch «Ja». Der Vorschlag setzt Verhaltensregeln voraus, die in einer gleichberechtigten Gesellschaft als normal gelten sollten. Und vielleicht macht ein strikteres Gesetz unsere Gesellschaft nicht automatisch besser, aber ich bin der Meinung, dass es dazu führen kann, dass anders aufgeklärt und das eigene Verhalten einmal mehr hinterfragt werden muss. Denn wir Menschen sind Gewohnheitstiere: Wenn wir bisher nicht bewusst «Ja» zu Sex gesagt, oder im schlimmsten Fall ein «Nein» nicht verstanden haben, müssen wir das jetzt halt lernen. Und besonders auch lernen, mit den daraus folgenden Konsequenzen umzugehen. Noch wichtiger als die Einführung eines Gesetzes ist, wie es in der Praxis umgesetzt wird. Es sind Menschen, die auf Richtstühlen sitzen und entscheiden, wer recht bekommt. Auch sie müssen lernen und sensibilisiert werden.
Bereits in neun europäischen Ländern gilt Sex ohne «Ja» als Vergewaltigung. Vor Gericht wird neu die Frage nach der Zustimmung geklärt und nicht aufgrund von Gewalt entschieden und verurteilt. Viele Täter*innen, die im aktuellen Rechtssystem angeklagt werden, verstehen nicht wirklich, warum sie beschuldigt werden. Der tabuisierte Umgang mit Sexualität und vor allem das Schweigen darüber führt zu einer verzerrten Wahrnehmung von Normalität. Bewusst «Ja» zu einer sexuellen Handlung zu sagen fördert Kommunikation. Wenn es zur Norm wird, über sexuelle Wünsche, Bedürfnisse und Grenzen zu sprechen, kann das meiner Meinung nach dazu führen, dass sich etwas in unserer aktuellen Gesellschaft verändert. Indem die Aufmerksamkeit gegenüber selbstbestimmter Sexualität grösser und die Toleranz kleiner wird. Denn ich verstehe nicht, was schwierig daran ist zu verstehen, dass eine Hand nur mit Zustimmung an die Brust, den Hintern, den Penis oder in die Vagina einer anderen Person gehört.
Kritische Stimmen rufen, dass die Unschuldsvermutung in Gefahr ist, wenn sich plötzlich Täter*innen damit befassen müssen, wo, wann und wie sie das Einverständnis zu sexuellen Handlungen bekommen haben. Es hört sich für mich paradox an, wenn umgekehrt Opfer stets begründen müssen, in welchem Masse sie sich gewehrt, was sie getragen und wie viel Alkohol sie getrunken haben. In der Schweiz herrscht mit gutem Recht «Im Zweifel für die Angeklagten». Diese Unschuldsvermutung heisst aber auch umgekehrt: JEDES OPFER HAT TENDENZIELL UNRECHT.
Kann eine Gleichberechtigung zwischen der klagenden und angeklagten Person hergestellt werden?
Sind ihre Wünsche und Bedürfnisse wirklich so verschieden?
An der Decke der Unterführung glitzert Morgentau in dicken Spinnweben und links donnert der Fluss unter der Autobahnbrücke hindurch. Rechts in der Ecke, am Zaun, wo man auf die vorbeifahrenden Autos schauen kann, streichelt ein älterer Mann seinen steifen Penis, der unter seiner weiten Jacke hervorschaut. Ganz in sich versunken spricht er flüsternd mit seinem Schwanz, während er immer fester streichelt. Eine Mutter mit Kinderwagen und Kleinkind an der Hand spaziert langsam herbei. Sie sieht den Mann und stoppt abrupt. Zieht das Kind an sich und will sich umdrehen. Das grosse Gefährt hindert sie daran und das Manövrieren zieht die Aufmerksamkeit des Mannes von seinem Schwanz auf den Kinderwagen. Er und die Mutter schauen einander in die Augen. Der Mann senkt den Blick, packt sein Glied ein und geht mit den Händen in den Hosentaschen an der Mutter vorbei. Er verschwindet von der Bildfläche.
30. November 2021
Ausgabe 1, S 51