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Schwimmbad Sexismus


Liebe Leser:innen

Im folgenden Beitrag stecken viele Gedanken, die ich hier festhalten und mit euch teilen möchte. Manche sind in Form von Sätzen schwarz auf weiss abgebildet. Andere findet ihr zwischen den Zeilen und zuletzt gibt es die, welche mir ebenfalls zu diesem Beitrag verhalfen, aber ich lieber noch eine Weile in meinem Kopf purzeln lasse - ich hebe mein Wasserglas, schwenke es kurz und nehme einen Schluck - es sind Gedanken über Sexismus.

Wasser. Ob im Glas, als Träne, in Form eines Sees oder ganz klein als Partikel in der Luft, es ist in und um uns herum. Ein Element des Alltags - wie Sexismus. Bis vor kurzem verband ich dieses Wort immer mitetwas Offensichtlichem. Grund dafür waren Geschichten, die mir anvertraut worden waren. Geschichten, über die ich gelesen hatte oder die Erinnerung an diesen einen Donnerstagabend. Ich hatte das Tram genommen, nachhause. Während der Fahrt hatte mir ein Mann mehrmals Geräusche zugeworfen, etwa so als wäre ich (s)eine Katze gewesen. Folglich schloss ich, dass Sexismus etwas Unverkennbares, direktes sei. Äusserungen oder Verhaltensweisen, die eindeutig: “Ein Geschlecht pauschal beziehungsweise eine konkrete Person aufgrund ihres Geschlechts herabsetzen, erniedrigen, sie auf Äußerlichkeiten reduzieren und nicht als Person anerkennen, sondern für eigene Zwecke als Objekt instrumentalisieren.“ (Wippermann, 2020)1

Dann jedoch, als ich mich hinsetzte, um diesen Beitrag vorzubereiten, begann ich gründlicher über Sexismus nachzudenken und stellte plötzlich vieles in Frage. Ich gelangte an einen Punkt, an dem ich das Gefühl hatte, nur noch in Fragen und Unsicherheit zu schwimmen. In diesem Moment entstand der Titel meines Buchbeitrages. Schwimmbad Sexismus. Im Kopf hatte ich eher das Bild eines Schwimmbeckens, notierte aber Schwimmbad. Zumal ich sowohl Bad als auch Sexismus mit dem Wort Zeit verbinde. Sexismus ist scheinbar flüchtig, wiederkehrend und so alt wie römische Thermalbäder oder noch viel älter.

Glücklicherweise blieb das Schwimmbeckenwasser nicht lange trüb von all diese Fragezeichen. Es wurde etwas klarer. Ich las über die verschiedenen Arten von Sexismus. Ja, da gibt es die offensichtlichen Varianten, aber eben auch jene, die sich mehr in den Grauzonen bewegen. Der benevolente (wohlwollenden) Sexismus2 und der unbewusste Sexismus2. Vermutlich gibt es noch unzählige weitere. Doch ich möchte bei diesen zwei Arten bleiben und näher auf sie eingehen. Denn sie weckten zunächst mein Interesse, dann ein Unbehagen und zuletzt persönliche Erinnerungen.

1Dr. Professor Wippermann, Carsten. Juli 2020. Sexismus im Alltag Wahrnehmungen und Haltungen der deutschen Bevölkerung. Pilotstudie, letztmals aufgerufen am 22.02.21

2Wikipedia. Sexismus, letztmals aufgerufen am 22.02.21. Unter anderem, kurze Auflistung und Beschreibung von verschiedenen Arten des Sexismus. Dennoch umfasst der Artikel, meiner Ansicht nach, längst nicht alle Arten oder Varianten des Sexismus. Der unbewusste Sexismus oder auch Mikrosexismus genannt, fehlt beispielsweise.
Schwimmbeckenblau oder Beulenblau
Ich bin zierlich und klein. Trug ich oder hob ich etwas, musste ich mir bisher von Jungs oder Männern des öfteren folgende Worte anhören: „Warte. Gib mir das. Das nehme ich. Das ist bestimmt zu schwer für dich.“ Und die Dinge wurden mir einfach so aus den Armen genommen. Manchmal nervte es mich nur. Sollen sie es doch tragen, wenn sie es unbedingt wollen. Meistens jedoch machte es mich nur wütend. Dann hielt ich die Kiste besonders fest oder hob beide St. Pellegrino Six-Packs auf und stampfte davon. Ja, hat jemand die Chromosome XY, kann diese Person durchaus stärker bzw. körperlich leistungsfähiger sein, als eine Person, die mit den Chromosomen XX geboren wurde - aufgrund der Anatomie4 - kann, muss aber nicht. Frauen können genauso stark sein, auch diejenigen, die zierlich und klein sind. An diesem Gedanken halte ich mich fest, schon seit ich klein bin. Mittlerweile stampfe ich mit dem Umzugskarton, auf dem Bibliothek steht, nicht mehr einfach davon, wenn man ihn mir abnehmen will. Ich antworte auf „das kannst du doch nicht alles tragen“ mit „ich habe schon Baumstämme rumgetragen“. Dabei lächle ich stolz als gelernte Kunsttischlerin in mich hinein. Doch noch während ich das hier schreibe, fühlt sich dieser Stolz nicht mehr so gut an. Als wäre er in einer gewisse Weise falsch.

Ja. Ich wollte und will noch immer dem Jungen, dem Mann das Gegenteil beweisen. Frauen sind stark - ich bin stark. Doch dafür übernahm ich mich in vielen Situationen. Ich wollte richtig anpacken, mit meinem Arbeitskollegen zwei, drei Massivholzplatten auf einmal heben, statt einer. Von der Last - zu schweren Last - schürfte ich mir bewusst Finger oder Hautstellen auf, um möglichst viel Haltefläche zu gewinnen. Das eine Mal trug ich während einer Lieferung einen runden, antiken Tisch zunächst mit meinem Chef eine Eingangstreppe hoch. Oben angekommen, musste ich ihn ohne Chef noch eine Weile halten. So stützte ich den Tisch vorsichtig an die Wand und auf meinem Oberschenkel ab – zulange. Ein fussgrosses Hämatom hatte sich auf meinem Bein gebildet.

Tragen, keine Miene verziehen, bis ans Äusserste gehen und die Schmerzen oder Beulen einstecken. Als würde ich immer und immer wieder dieselbe Runde schwimmen, für die Stärke der Frau - nein, ich muss mich korrigieren - eigentlich für alle Personen, die man für schwach hält, obschon sie es gar nicht sind. Trotz dieser guten Intention bin ich in einen Kreislauf gerollt, der mir nicht gut tut. Das sehe ich jetzt ein. Ausserdem habe ich verstanden, wer mich zu diesem Verhalten bewegte. Sein Name ist wohlwollender Sexismus.

3Hasler, Stephanie. Juni 2020. Unbewusster Sexismus im Büro: Das können wir dagegen tun. Schweizer Radio und Fernsehen, SRF Forward, letztmals aufgerufen am 22.02.21 / Ich fand zum unbewussten Sexismus weder eine wissenschaftliche Arbeit, noch eine sachliche Quelle. Dafür mehrere journalistische Beiträge, wie zum Beispiel den obengenannten Artikel.

Den blauen Gürtel zur Hand
Ich praktizierte für eine lange Zeit Judo. Sprach ich darüber in Gegenwart eines Mannes oder erwähnte ich es als ich noch jünger war gegenüber Jungs, bekam ich manchmal grinsend von ihnen folgendes zuhören: „Muss ich jetzt Angst vor dir haben?“ Einen anderen Spruch, an den ich mich aus meiner Schulzeit erinnere, ist: „Ich würde sie nicht zu fest nerven, sie macht Judo.“

Noch bevor ich begann die ersten Linien dieses Beitrages aufzusetzen, beschäftigte ich mich lange mit den oben zitierten Kommentaren. Sie standen auf der einen Seite, auf der anderen der Begriff Sexismus. Ich fragte mich dauernd, ob es da eine Verbindung gibt. Suchte ich da nach etwas, das gar nicht ist? Dann jedoch stellte ich mir die Gegenfrage. Wie haben Frauen oder Mädchen aus meiner Umgebung darauf reagiert, wenn sie erfuhren, dass ich einst einen Kimono trug und kämpfte?

„Ja, du musst jetzt Angst vor mir haben.“ So habe ich nie geantwortet. Eigentlich kann ich mich nicht daran erinnern, dass ich jemals sprachlich darauf eingegangen bin. Nur, dass ich gelächelt oder es cool gefunden hatte. Als wäre mir plötzlich eine gewisse Macht zugewiesen worden. Eine Macht in Bezug auf was? Oder war es Respekt, den ich dadurch erlangt hatte? Doch hätte ich keinen Kampfsport praktiziert, hätte ich diesen Respekt dann nicht verdient? Kann ich denn, da ich nun nicht mehr Kampfsport ausübe, nicht mehr angsteinflössend wirken? Müssen sie mich nun nicht mehr respektieren, ich sie aber schon? Sind wir nun nicht mehr gleichgestellt? Angesichts all dieser Fragen, nähere ich mich der Überzeugung, dass in diesen Aussagen Sexismus zu finden ist. Gut verpackt in scheinbar belanglosem Alltagsgerede. Darin erkenn ich aber, dass es diesen Jungs oder Männern nicht zwingend bewusst war, was sie da in ihren Worten bekräftigten und ich - ich bemerkte es erst jetzt. Bestimmt gibt es auch einige von euch, die das Sexistische in diesen Äusserungen erst im Nachhinein wahrgenommen haben oder es erst noch wahrnehmen werden. Ob es nun Worte sind von Mitmenschen, Fremden oder aus dem eigenen Mund. Das ist unbewusster Sexismus - oder zumindest eine Variante davon und obschon meine geschilderte Erfahrung es vielleicht nicht ausreichend verdeutlicht, muss unbewusster Sexismus gleichermassen ernst genommen werden wie offensichtlichere Arten des Sexismus. Denn ersterer errichtet sich auf der noch weit verbreiteten Unwissenheit und behält dadurch seine unsichtbare Macht.


Die Lehre des Wassers
Nun bin ich hier, an diesen Punkt angelangt. Ich habe das Schwimmbad Sexismus, dieses Konstrukt verlassen - jedenfalls für den Moment. Was ich aus der Auseinandersetzung damit mitnehme, sind zwei Dinge.


Was ist der Zweck dieses Konstrukts?
Nun, Sexismus hat etwas von einem Element - wie ich anfangs schon sagte. Komplex, facettenreich und mit vielen Eigenschaften. Dies macht ihn bedeutend, machtvoll und unberechenbar. Soweit, dass er in der betroffenen Person unter anderem ein Gefühl von Angst, Wut, Ungerechtigkeit, Hilflosigkeit, Unsicherheit hervorrufen kann. Doch durch Pauline M. Leet erhielt er 1965 einen Namen4! Damit wir wissen, wovon wir sprechen. Damit wir wissen, was das ist, dass einem widerfährt. Sexismus. Um eine gewisse Kontrolle, einen Überblick darüber zu erlangen. So wie ich, als ich sein amorphes Wesen für diesen Buchbeitrag in ein Schwimmbecken steckte.

4Wikipedia. Geschlechterunterschiede im Sport, letztmals aufgerufen am 22.02.21 / Jochem, Frank. J. August/ September 1999. Warum ist das Meer so blau? In: Mare. Die Zeitschrift der Meere. Nr. 15, S. 58-59.
In: https://www.mare.de/warum-ist-das-meer-so-blau-content-2885, letztmals
aufgerufen am 22.02.21

Was entnehme ich aus dem Erscheinen dieses Konstrukts?
Wenn ich an die Vorstellung dieses Schwimmbeckens denke, bleibt mir dessen Silhouette noch immer, wenn auch nur für den Bruchteil einer Sekunde in meinem Kopf. Schon beim nächsten Augenaufschlag löst sich das Bild wieder auf. Es scheint fast so, als würde sich irgendetwas dagegen wehren, die permanente Form eines Beckens anzunehmen. Eventuell ist es der Sexismus, sein Wesen, dass sich darin sträubt kontrolliert zu werden. Eventuell ist es aber auch der feministische Kampfgeist, den das Wesen zu spüren bekommt. Das wären meine Interpretationen dazu. Doch etwas, dass sich seit dem ersten Erscheinen dieses Konstrukts nicht geändert hat, ist die Farbe, die es umgibt: einen Blauton.

Denken wir an Wasser, steht in einem Roman etwas von einem See, oder erzählt jemand, er sei am Meer gewesen, taucht schnell einmal vor dem geistigen Auge die Farbe Blau auf - oder zumindest etwas in diesem Farbspektrum. Nicht ganz dasselbe, jedoch auf eine ähnliche Weise, verband ich, sobald ich das Wort Sexismus hörte, es mit eindeutigen sexistischen Taten. So simpel ist es aber eben nicht. Genauso verhält es sich mit dem Wasser. Es ist nicht einfach blau. Wir nehmen es auch als durchsichtig, grün oder braun wahr. Wie uns das Wasser schlussendlich erscheint hängt mit verschiedenen Faktoren zusammen. Dennoch bleibt das blaue Wasser stets im Vordergrund. Eine Antwort auf die Frage weshalb das so ist, fand ich in einem Textauszug des Artikels „Warum ist das Meer so blau?“5. Ich erzähle davon, weil es mich in meinen Überlegungen über Sexismus weitergebracht hat. Einmal mehr sah ich ein, wie wichtig es ist zu hinterfragen, weiterzudenken, tiefer zu denken, zu recherchieren, zu insistieren und nicht loszulassen. Durch dieses
Vorgehen gelangte ich auch zu den verschiedenen Arten des Sexismus und schliesslich zur Erkenntnis, dass Sexismus viel mehr ist. Verstrickter, viel weiter geht, als ich gedacht hatte. Dadurch nimmt für mich das Aufklären, Diskutieren, Auseinandersetzten, Reflektieren über das Thema Sexismus eine ganz neue Dimension an - oder hat es bereits. Vielleicht auch für euch.


PS: So wie ich das sehe, hat das in völlig blaugetauchte Schwimmbad Sexismus seine Aufgabe erfüllt. Was wäre, wenn ich erneut vorbeischauen würde, wie würde das Konstrukt wohl dieses Mal aussehen?


Louisa Forestier
Januar. Februar. 2021






29. November 2021 
PAusgabe 1, S 168