Wir machen uns deine Welt
Jedes Mal ärgert es mich, wie mein Vater dir Bilderbücher erzählt. Oder meine Mutter. Da sind sie gleich. Sie nehmen dich mit in die Welt von Wissenschaftlern, Tauchern oder von Leo, der kleinen Maus. Jedes Mal trauere ich dann um eine Chance, die du damit verpasst. Die Chance auf ein Weltbild, in dem Wissenschaftlerinnen, Taucherinnen oder eben die Maus Lea dir als Heldinnen und Vorbilder dienen.
Ich achte seit deiner Geburt darauf, wie ich die Sprache nutze. Denn du kopierst sie. Dein Papa und ich gendern konsequent. Inklusive der Pause 4. Wir reden mit dir über das andere Kind auf dem Spielplatz und versuchen, es mit Worten zu umschreiben, anstatt vom Mädchen oder Jungen zu sprechen. Ich kaufe Edding-Filzstifte in verschiedenen Brauntönen, damit ich die Haare der Figuren in deinem Feuerwehr-Buch so ummalen kann, dass du sie als Feuerwehr-Frauen liest. Die Geschichten in deinen Kinderbüchern handeln - ebenfalls Filzstift sei dank - von Mädchen-Siebenschläfern und -Fledermäusen, die du auf ihren Abenteuern begleitest. Und „Pingu“-Hörspiele gibt es bei uns nicht mehr. Zu traditionell sind die Rollen verteilt: Die Mutter verbringt den Tag mit putzen, aufräumen, abwaschen, Kinder betreuen. Wenn der Vater abends von seiner strengen Arbeit als Postbote nach Hause kommt, setzt er sich an den Tisch, isst und liest danach Zeitung, während sich die Mutter wieder um Kinder und den Abwasch kümmert. Der Vater hilft nicht mit, auch nicht bei der Kinderbetreuung. Das liegt an seinem strengen Arbeitsalltag bei der Post, weshalb er sich abends regelmässig ausruhen muss. Während die Mutter wieder putzt oder aufräumt.
Manchmal ermüdet es mich und lässt mich verzweifeln. Viele reden auf dich ein und prägen dich und dein Weltbild, ohne sich der Verantwortung bewusst zu sein. Untersuchst du deine Plüschtiere mit dem Stethoskop, nennen sie dich Krankenschwester und nicht Ärztin.
Es heisst, spätestens im Kindergarten würden Kinder damit beginnen, in Stereotypen zu denken. Das macht mir Angst. Bis dahin will ich dir bei jeder Möglichkeit eine Realität zeichnen, in der du alles sein kannst, was du willst. Letztens habe ich gehört, wie du meinem Vater beim Vorlesen sagtest: Dieses „Globi“-Buch sei völlig falsch. Bei der Polizei gebe es nicht nur Polizisten. Sondern auch Polizistinnen.
29. November 2021
Ausgabe 1, S 11