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©2021 collectifgamine


Es fehlen die Worte


Folgende Geschichte wurde beinahe ausradiert. Zum Glück kam es anders. Die Heldin der Geschichte ist meine Mutter. Sie hat sich mit Händen und Füssen gewehrt. Mit ihrem Handeln sorgte sie dafür, dass hingeschaut wird. Sie hat das einzig Richtige getan. Dieser Satz ist so wichtig, dass er hier fettgedruckt stehen müsste. Dass sie sich dabei ständig hintersinnt hat und sich gefragt, ob sie einfach übersensibel sei, oder doch etwas überreagiere, ist nichts anderes, als ein trauriges  Armutszeugnis unserer Gesellschaft.

Dieser Text ist sowohl Bericht als Aufruf zugleich. Er erzählt von Taten, die nicht passieren dürfen und gleichzeitig Teil unseres Lebens sind. Dennoch und genau deshalb gehören die Worte ausgesprochen und niedergeschrieben. Auch wenn sie manchmal fehlen. Folgende Zeilen sollen sensibilisieren und alte Verständnismuster aufbrechen. Sexismus, sexuelle Belästigung und Nötigung sind keine Bagatellen, kein Witz und auch kein «das war doch nicht so gemeint». Es gilt das Prinzip der Nulltoleranz und zwar immer und diskussionslos.

Eine Mitarbeiterin meiner Mutter wendet sich im Vertrauen an sie und erzählt ihr, dass sie von einem Arbeitskollegen sexuell belästigt wird. Via WhatsApp schickt er ihr dreckige Nachrichten und sendet gegen ihren Willen Bilder seines Genitals. Er droht ihr – wenn sie jemandem davon erzählen sollte, sorge er dafür, dass sie ausgeschafft wird. Meine Mutter leitet eine Station in einem Alters- und Pflegeheim am Zürichsee. Viele ihrer Mitarbeitenden stammen aus Krisenregionen, so auch diese junge Frau. Aus Tibet geflohen, hat sie in der Schweiz ein neues, vermeindlich sicheres Zuhause gefunden. Deutsch ist noch schwer verständlich, ganz zu schweigen von den kulturellen.

Hürden, die sie täglich zu meistern hat. Diese Umstände machen sie noch verwundbarer.Meine Mutter reagiert intuitiv. Ihr mütterlicher Beschützerinstinkt löst immense Kräfte aus. Wie eine Löwin, meinte sie später, als sie mir davon erzählte. Ihre Mitarbeiterin hat Angst. Auf Knien fleht sie meine Mutter an, niemandem etwas zu sagen. Zu gross ist die Scham. Doch noch grösser ist die Wut, die sich in der Brust meiner Mutter ausbreitet. Löwenmama.

Das Schlimmste folgt erst. Die Geschichte dieser jungen Frau ist nur die Spitze des Eisbergs. Seit vielen Jahren belästigt der besagte Pfleger nicht nur sie, sondern weitere Mitarbeiterinnen seines Teams und im ganzen Haus. Das sind die erschütternden Erkenntnisse, die meine Mutter aus verschiedenen Gesprächen mit anderen Stationsleiterinnen und Personalverantwortlichen gewinnt. Ohne Konsequenzen.


Es fehlen die Worte.

Wie kann das sein? Wie kann ein Mann über eine solch grosse
Zeitspanne unbeirrt Frauen sexuell belästigen, ohne dafür bestraft zu werden? Meine Mutter findet Unterlagen mit Zeuginnenaussagen. Die Altersspanne reicht von 16 bis ins Pensionsalter. Die Daten gehen zehn Jahre zurück. Niemand hat eingegriffen. Verwarnungen solle es gegeben haben, keine davon wurde schriftlich festgehalten.

Es fehlen die Worte.

Meine Mutter redet mit ihrem Team. Sie findet raus, dass der Mann nicht nur Frauen belästigt, sondern auch Mitarbeiter psychisch misshandelt. Er übt immensen mentalen Druck aus, hauptsächlich auf Migranten und Menschen, die ihm sprachlich unterlegen sind. Einige Teammitglieder verharmlosen die Sache. Er meine das ja nicht so, das sei doch lustig.


Es fehlen die Worte.

Meine Mutter versteht die Welt nicht mehr und ich mit ihr. Wie soll ein ungewünschtes Dickpic lustig sein? Sie entscheidet sich für den
richtigen Weg, alarmiert die Heimleitung. Ein Mann, eine Sackgasse. Auch er spielt das Ganze runter und streut damit Zweifel in Mutters Wahr-nehmung. Nulltoleranz, sage ich ihr am Telefon. Diskussionslos und
immer. Sie wendet sich an die Gemeinde und bespricht die Sache mit der Personalverantwortlichen. Eine Frau, ein offenes Ohr. Ich wünschte es wäre nicht so klischiert, doch es entspricht in diesem Fall der Wahrheit. Der Heimleiter kuscht. Der Pfleger wird zu einer Therapie verdonnert.


Es fehlen die Worte.

Meine Mutter baut ihre Überstunden ab und nimmt sich eine Auszeit. Die Geschichte lässt sie nicht los. Wir telefonieren viel. Ich ermutige sie, nicht lockerzulassen und versuche die gestreuten Zweifel aus dem Weg zu räumen. Wir üben gemeinsam das wichtigste Mantra: Nulltoleranz. Der Mann muss entlassen und angezeigt werden. In besonders dunklen
Momenten stellen wir uns vor, was er mit den Bewohnerinnen und
Bewohnern macht. Uns wird übel.


Es fehlen die Worte.

Die Gemeinde macht dem Heimleiter Druck. Es müsse eine Lösung her. Und plötzlich fragt der Heimleiter meine Mutter um Rat. Sie sagt ihm klar, was sie denkt. Als Stationsleiterin trägt sie die Verantwortung für ihr Team und sieht es als ihre Aufgabe, ihre Mitarbeitenden im Rahmen
ihres Möglichen zu schützen. Nulltoleranz. Der Pfleger oder sie.
Wenige Jahre vor ihrer Pensionierung schleudert sie dem Heimleiter
diese Drohung, die viel mehr eine Einstellung ist, ins Gesicht und wird für mich damit zur Heldin. Der Heimleiter erblasst, er weiss um ihre Qualität und fürchtet einen Skandal. Am nächsten Tag wird der Mitarbeiter auf eine andere Station versetzt.


Es fehlen die Worte.

Das war also die Lösung. Erst ein ganzes Jahrzehnt vertuscht, dann nicht ernst genommen und nun kann sich jemand anderes darum kümmern. Vielleicht ist die Stationsleitung auf dem anderen Stockwerk ja weniger empfindlich. Mir fehlen in dieser Geschichte so oft die Worte. Sie
werden durch Fragezeichen ersetzt. Wie kann so etwas passieren? Wieso wehrt sich niemand? Wie kann es sein, dass die Angst dermassen lähmt? Der einzige Weg ist die Sichtbarmachung, die
Sensibilisierung für solche Taten und die Enttabuisierung von Sexismus in allen Formen. Nichts davon ist ok, es gilt Nulltoleranz. Diskussionslos und immer. Ich bin wahnsinnig stolz auf meine Mutter. Sie hat nicht losgelassen und damit das erreicht, woran unzählige Menschen zuvor im Verlauf einer ganzen Dekade gescheitert sind: Sie hat der Wahrheit ins Auge gesehen und sie den Verantwortlichen auf den Tisch geknallt. Ohne ihren Mut wäre ein weiterer Fall von sexueller Belästigung einmal mehr unsichtbar gemacht worden – auch wenn das Ende der Geschichte ein bitteres ist: Der Pfleger hat schliesslich von sich aus gekündigt. Er ist nach wie vor ein freier Mann.




30. November 2021
Ausgabe 1, S 119