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©2021 collectifgamine


Gender im Zugabteil


Es war vor genau einer Woche. Ich sass mit meinem Grossvater im Zug, auf dem Rückweg einer atemberaubenden Wanderung durch das Bietschtal. Mein Kopf war bei den farbigen Bodenstrukturen, bei den handgeschnitzten Bewässerungskanälen und bei der Arbeit, die mich zuhause empfangen würde.

In Kandersteg wurde ich harsch aus meinen Träumen gerissen, als zwei Männer1 den Waggon betraten – sichtlich betrunken, johlend, kichernd. Sie setzten sich ins Abteil diagonal hinter uns und schwatzten lauthals los, spielten Musik ab und schrien herum, während das ganze Zugabteil langsam verstummte. Als ich meinen Grossvater unter dem Lärm nicht mehr verstehen konnte, drehte ich mich zu den Zweien um und teilte ihnen mit, dass sie die Musik abstellen müssen.
1Die zwei Männer identifizierten sich selber als Männer, weshalb ich sie hier auch Männer nenne.

Der etwas Aufmüpfigere wetterte in meine Richtung, hier in Bern sei man zu verklemmt, in Zürich fänden das alle ganz gut, wenn er den Zug für alle beschallen würde. Ich solle nicht so tun, er stelle die Musik nachher einfach wieder an.

Als er feststellte, dass ich mich nicht über meine Kantonsangehörigkeit angreifen liess, setzte er neu an. Er fragte seinen Kollegen:

«Ist das eine Frau oder ein Mann?»


Ich hörte es, rollte mit den Augen, atmete tief durch. Er insistierte:

«Nein, nein, weisst du, ich verstehe es einfach nicht, ich muss es wissen, war das ein Mann oder eine Frau?»


Ich schaute auf mich herab. Ich sass mit entspannten Schultern und breiten Beinen. Ich trug weite schwarze Kleidung: eine Trainerhose, ein Strickpulli über zwei Schichten Thermowäsche, mit klobigen grauen Wanderschuhen. Ich hatte meine Haare im Nacken zusammengebunden, trug einen dunkelblauen Hut und eine schwarze Gesichtsmaske. Ich schaute auf meine Hände. An der Rechten ein Ring meiner Mutter – gross, goldig, mit ovalem Stein. Links ein feiner Ring aus Rentierknochen. Ein Geschenk meiner Grossmutter.

Ich ergab mich meinem ratternden Kopf. Manchmal macht mir mein Gender Mühe. Mit meinem Geschlecht habe ich mich abgefunden, aber die Sache mit meinem Gender ist eine endlose. Wie ich mich präsentieren, kleiden, wie ich sprechen und angesprochen werden will, ändert sich von Tag zu Tag. An diesem Sonntag wollte ich in der grossen Gender-Grauzone bleiben. An diesem Sonntagmorgen wollte ich einfach, dass mein Gender egal ist.

Hätte ich aber enger anliegende Kleidung gewählt, hätte ich etwas mehr Farbe getragen, hätte ich meine Augen geschminkt, hätte ich mit einer höheren Stimme gesprochen, hätte ich stärker gestikuliert, hätte ich meine Haare offen getragen, hätte ich mich entschuldigt dafür, dass ich die zwei lauten Männer störe, hätte ich meine Nägel lackiert, hätte ich grössere Brüste, wäre für sie der Fall klar gewesen.

Hätte ich eine etwas tiefere Stimme gewählt, um sie anzusprechen, hätte ich meine Haare kurz geschnitten, hätte ich keinen Schmuck getragen, hätte ich einen etwas brüderlicheren Ton gewählt, um sie zu bitten, die Musik leiser zu machen, wäre der Fall auch klar gewesen.

Ich war wütend. Denn so, mit mir als unklaren Fall; ein Gegenüber, das es nicht zulässt, auf alte Protokolle und Verhaltensweisen zurückzugreifen, waren die zwei überfordert.

Der Lautere rief mir beim Aussteigen homophobe Beschimpfungen nach. Ich zeigte ihm den Mittelfinger, während ich mich fragte, wie man Leuten Gender erklärt



29.November 2021 
Ausgabe 1, S 43